Ein Jahr im Leben der Weinbergschnecke

Der Sommer naht. Schon länger begegnen sie uns wieder im Garten, im Wald, auf dem Trottoir: Schnecken. Die Weinbergschnecke ist die grösste Gehäuseschnecke der Schweiz. Wie verbringt sie ihr Jahr? Wem mag sie auf ihrer Wanderschaft begegnen? Welche Gefahren lauern auf sie?
Weinbergschnecke

Eingegraben und sicher vor Kälte geschützt hat sie die Wintermonate unter einem Haselstrauch verbracht.

Regentropfen trommeln auf altes Laub, auf abgebrochene Äste und das Gehäuse unserer Weinbergschnecke. Nur langsam wacht sie auf. Sie ist hungrig und ausgelaugt: Die Winterstarre hat ihr alles an Energie abverlangt, was sie sich im Herbst des Vorjahres angefressen hatte.

Selbst über eine Messerklinge könnte die Schnecke kriechen, ohne sich dabei zu verletzen. Zu dieser Meisterleistung verhilft ihr der Schleim. Dieser umhüllt ihren beweglichen und höchst empfindlichen Kriechfuss wie ein Mantel aus Wasser. Als Kriechfuss bezeichnet man den weichen Körper, mit dem sie sich fortbewegt und auf dem das Schneckenhaus sitzt.

Mit ihrem oberen Fühlerpaar sieht die Schnecke, mit dem unteren ertastet, schmeckt und riecht sie ihre Umwelt. Schnell findet sie das erste Futter: Welker Klee, doch auch frischer schmeckt ihr.

Während sich die Weinbergschnecke an welkem Klee satt frisst, ertönt um sie her ein wahres Vogelkonzert. Die Blau- und Kohlmeisen zwitschern hell, Spatzen streiten sich lauthals um ein Stück Brot, die Rabenkrähen krächzen in den Baumwipfeln.

All das aber hört die Weinbergschnecke nicht: Sie besitzt keine Ohren. Vielleicht auch besser so – was für uns wie Musik klingt, würde die Schnecke ängstigen. Vögel nämlich sind nebst Igeln ihre grössten Fressfeinde.

Sperlinge

Aber etwas anderes bedroht unsere Weinbergschnecke ständig: Trockenheit.

Inzwischen hat sich die Schnecke von der anstrengenden Winterruhe erholt und erreicht langsam wieder ihr altes Gewicht. Die Tage werden wärmer. Regentage bleiben aus. Eine hohe Luftfeuchtigkeit ist für die Schnecke überlebenswichtig. Jetzt wird es immer trockener. Wenn das so bleibt, muss die Schnecke ihre Wanderung durch den Garten unterbrechen.

Weinbergschnecke in Trockenstarre

Um der Hitze und Trockenheit zu entkommen, ist die Schnecke vor allem nachts aktiv. Aber manchmal genügt auch das nicht: Dann verkriecht  sie sich an einem schattigen und feuchten Ort. Manchmal gräbt sie sich ein. Und wenn die Luft über dem Boden vor Hitze flirrt und die Erde reisst, sinkt die Schnecke in die sogenannte Trockenruhe. Dabei zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und sondert einen zähen Schleim ab. Dieser Schleim bildet ein Häutchen, das die Schnecke im Sommer vor Trockenheit und Feuchtigkeitsverlust schützt.

Dieser Vorgang kostet die Schnecke viel Energie. Deswegen kann sie nicht beliebig oft in Trockenruhe gehen. Zuerst braucht sie wieder Nahrung. Mit ihr nimmt sie den Kalk auf, den sie benötigt, um ihr Gehäuse zu reparieren. Zu schnelle Wetterwechsel können den Schnecken stark zusetzen und Massensterben auslösen.

Unsere Weinbergschnecke hat Glück: Nach einer kurzen Trockenzeit  setzt der erlösende Regen ein. Auf ihrem Weg von Futterpflanze zu Futterpflanze begegnet sie zahlreichen anderen Schnecken, die auch auf das passende Wetter gewartet haben. Sie trifft auf  Gehäuseschnecken ebenso wie auf Nacktschnecken.

Gehäuseschnecke und Nacktschnecke
Weinbergschnecke in Gefahr

Wusch! Ein Schatten gleitet über unsere Weinbergschnecke. Blitzschnell zieht sie sich in ihr Gehäuse zurück. Ein natürlicher Reflex, denn meist bedeutet ein vorüberziehender Schatten nur eines: ein Feind!

Eine Drossel tippt die Weinbergschnecke neugierig an. Jedoch gibt sie rasch auf: Das Gehäuse ist zu gross, zu hart und zu stabil. Das weist auf ein Tier hin, das schon einige Jahre alt ist. Für die Drossel lohnt sich die Mühe nicht. Sie fliegt weiter – und erwischt Sekunden später eine kleine Nacktschnecke, die vergeblich versucht hat, sich unter Sträuchern zu verstecken.

Es ist durchaus eine tolle Sache, sein Haus bei sich zu tragen. Dafür können sich die Nacktschnecken bei heissem Wetter in enge Spalten zwängen, in die eine Weinbergschnecke wegen ihres grossen Gehäuses nicht passen würde. Ausserdem ist der Schleim mancher Nacktschnecken besonders zäh und schützt sie noch besser vor Austrocknung. Das und ihre nächtliche Lebensweise machen ein Gehäuse überflüssig.

Schnecken haben an ihrem ganzen Körper sogenannte Geruchszellen, besonders viele am Kopf. Über diese Zellen nehmen sie einander erstmals wahr, bevor sie sich schliesslich vorsichtig mit ihren Fühlern betasten.

Obwohl Weinbergschnecken allein auf Wanderschaft gehen, suchen sie dann und wann Gesellschaft: Das kann ein geeignetes Ruheplätzchen im Schatten sein oder etwa wenn sie sich paaren.

Mann oder Frau – diese Frage stellt sich einer Weinbergschnecke nicht. Sie ist beides, und das zur gleichen Zeit!

Hat sie einen Partner gefunden, machen sich die zwei nicht selten über Stunden hinweg miteinander vertraut. Sie betasten und umschlingen sich – und am Ende verlassen sie einander wieder, auf der Suche nach einem Platz, um die Eier abzulegen.

Weinbergschnecken bei der Paarung
Weinbergschnecke bei der Eiablage

Der Sommer erreicht seinen Höhepunkt. Für unsere Weinbergschnecke drängt die Zeit: Unbedingt muss sie ein geschütztes, weiches Stück Erde finden. Hier gräbt sie mit ihrem kräftigen Kriechfuss ein rund fünf Zentimeter tiefes Loch. Innerhalb von fast 20 Stunden legt sie schliesslich 40 bis 60 kleine weisse Eier in die Erdhöhle. Während dieser Zeit ist sie verletzlich und darf auf keinen Fall gestört werden. Wenn sie fertig ist, verschliesst sie das Loch behutsam mit ein wenig Erde. Sie ist am Ende ihrer Kräfte.

Die Jungschnecken schlüpfen noch im selben Jahr. Um die frostigen Winternächte zu überleben, müssen sie allerdings eine gewisse Grösse erreichen. Dafür brauchen sie Zeit – und ganz viel Nahrung.

Wenn Jungschnecken schlüpfen, ähneln sie ihren Eltern bereits sehr. Ihr Gehäuse aber ist weich und durchsichtig. So durchsichtig, dass man ihr Herz pochen sieht. Erst wenn sie fressen und Kalk aufnehmen, beginnt das Gehäuse zu verhärten. Kalkreiche Böden und Nahrung sind für die Schnecken daher überlebenswichtig.

Weinbergschnecke frisst

Unsere Weinbergschnecke hat es geschafft: Ihr Nachwuchs wird gross genug sein, wenn der Winter anbricht.

Nach der anstrengenden Eiablage und zahlreichen Hitzetagen muss die Schnecke nun selber wieder zu Kräften kommen. Sie frisst, was sie findet, von Brennnesselblättern über welken Wiesenklee bis hin zu Fallobst. Sie ist eine reine Pflanzenfresserin und interessiert sich nicht für die Eier anderer Schnecken, obwohl man das oft hört.

Satt und vollgefressen verkriecht sich die Schnecke. Unter einer Efeudecke gräbt sie ein Loch für sich selbst. Ganz so, wie sie es im Sommer für ihren Nachwuchs getan hat. Und unweit vom Haselstrauch, unter dem sie im Frühjahr erwacht ist.

Die Temperaturen fallen. Nun beginnt die Schnecke, sich zu verdeckeln. Das heisst, sie zieht sich tief in ihr Schneckenhaus zurück und sondert eine kalkhaltige Flüssigkeit ab, die an der Luft verhärtet und einen Deckel bildet. Dieser Deckel verschliesst das Schneckenhaus und schützt die Schnecke im Winter vor Fressfeinden.

Weinbergschnecke mit Kalkdeckel

Schlägt das Herz der Schnecke das übrige Jahr hindurch rund 36-mal pro Minute, verlangsamt sich ihr Herzschlag jetzt auf viermal pro Minute.

Bitterkalt sind die Nächte. Auch in den Tälern wirbeln frühe Schneeflocken durch die Luft. Für die Schnecke endet das Jahr: Sie schläft und wartet auf den nächsten Frühling.

Eine Weinbergschnecke kann über 30 Frühlinge erleben – erwachsen ist sie mit vier Jahren.